Verlorenen Boden zurückgewinnen

Mit großer Trauer und viel Wut haben wir in den letzten Wochen die mit hoher Wahrscheinlichkeit aus islamistischen Beweggründen erfolgten Morde in Nizza Wien und in der Nähe von Paris verfolgt. Diese Taten reihen sich in eine seit Jahrzehnten wachsende islamistische Bewegung in Europa ein. Wir möchten mit diesem kleinen Text einen Beitrag zu einer radikalen Religionskritik liefern, wie sie in der radikalen Linken zu selten praktiziert wird. Nicht die antiautoritären Kräfte führen die Debatte gegen religiösen Fanatismus an, sondern die den Fanatikern inhaltlich besonders nahen faschistischen Bewegungen Europas. Dies war auch schonmal anders und sollte sich unserer Meinung nach in Zukunft wieder ändern.

Religionen und ihre Wirkung

In dieser Kategorie spielt der politische Islam eine unrühmliche Vorreiterrolle. In trauriger Regelmäßigkeit verüben ideologisch geschulte Islamisten Anschläge auf politische Gegner:innen. Dass auch der Staat und seine Institutionen regelmäßig Ziele dieser Angriffe sind, sollte uns jedoch kaum erfreuen. Denn hinter diesen Taten steht ein Selbstbild, welches noch vor einigen Jahren in Gestalt des Islamischen Staates (IS) zeigte, welches Ziel verfolgt wird. Über die Gräueltaten des IS ist viel bekannt: Ob der Völkermord gegen die jesidische Minderheit, die Angriffe auf die kurdischen Autonomiegebiete oder der Terror gegen all jene, welche ihrer Ideologie entgegen standen und das Pech hatten in die Fänge des IS zu gelangen. Der IS zeichnete eine ganze Generation. Doch neben dem international beinahe isolierten IS besteht eine Vielzahl von Staaten, die religiösen Ursprungs sind oder Religionen starke Sonderrechte einräumen.

Was die meisten dieser Staaten und Religionen vereint ist das oftmals zutiefst konservative Weltbild. Schon die unkritische Ableitung modernen Lebens aus Jahrhunderte alten Büchern und Schriften ist zutiefst fragwürdig. Die konservative Schlagseite der Schriften stellt hierbei eine Bedrohung für den menschlichen Fortschritt mehrerer Jahrhunderte dar. Eines der wichtigsten Unterdrückungssysteme, das Religionen aufrecht erhalten, ist das Patriarchat. Hier lässt sich die allen großen Religionen innewohnende Neigung erkennen gesellschaftlichen Fortschritt zurückzudrängen. Ob aus Büchern, in welchen die allwissenden Gottheiten das Auto nicht einmal im Ansatz vorhersahen, hergeleitet wird, dass sicherlich Frauen diese nicht benutzen sollten oder in religiösen Zeremonien junge Frauen genital verstümmelt werden, Religionen werden nicht müde die Jahrhunderte alten Herrschaftssysteme weiter zu erhalten. Natürlich werden auch Bibelstellen vernachlässigt, welche in der Moderne keinen Sinn mehr ergeben, eine kritische Betrachtung der doch sehr einlastigen Sexualmoral ist hingegen nicht im Sinne der Kirchenoberen. Gerne wird auch die Erzählung bedient, dass solche Vorstellungen doch Tradition wären. Doch diese Fantasie der Geschichte galt noch nie für diejenigen, welche in den religiösen oder weltlichen Herrschaftssystemen sich über Wasser halten mussten. Wer es sich nicht leisten konnte oder wollte, dass eine Person sich nur um Heim und Hof kümmert, durfte sich neben der eigenen Armut noch mit dem Gedanken anfreunden, jeden Tag eine Sünde zu leben. Dass in Jahrhunderten, in denen Frauen auf diese Weise unterdrückt wurden, mit der Zeit viele rebellierten, ist den geistlichen Eliten bis heute sowohl paradox als auch ein Dorn im Auge.

Religiöser Fanatismus ist in Europa keine neu enstandene Bewegung. Bekannte religiöse Kriege wie die Kreuzzüge und die Verfolgung von Ungläubigen wie zu Zeiten der Inquisition waren dramatische Auswirkungen eines militanten Katholizismus. Auch viele andere Teile der Welt sind von religiös motivierten Gewalttaten gezeichnet. 1995 etwa verübte eine Sekte einen Giftgasanschlag in der U-Bahn von Tokyo, bei dem über 5000 Menschen verletzt wurden. Seit 2017 wurden in Myanmar hunderttausende Angehörige der muslimischen Minderheit von der buddhistischen Mehrheitsgesellschaft vertrieben und über 10000 getötet. Diese und weitere Ereignisse zeigen, dass die in der Gesellschaft und Teilen der radikalen Linken beliebte Einteilung in gute und schlechte Religionen an der Wirklichkeit vorbeigeht. Das Problem bleiben Menschen, die der Meinung sind aufgrund oft hunderte Jahre alter Schriften einen übergeordneten Auftrag wahrzunehmen.

Radikale Religionskritik stärken

Dass es stiller geworden ist um radikale Religionskritik ist eine bedauerliche aber nicht zwangsläufige Entwicklung in der radikalen Linken. Die Kämpfe für die lohnabhängige Klasse waren in der Vergangenheit oftmals mit einem Kampf gegen religiöse Vorstellungen geprägt. Ob Auseinandersetzungen zwischen klassenkämpferischen und religiösen Gewerkschaften oder der Kampf um die Befreiung von kirchlich verordneten Lebensweisen – stets waren die Revolutionär:innen bemüht den Einfluss der Priester, Mönche, Imame und Gottheiten zurückzudrängen. In der anarchistischen Bewegung war dieser Kampf über die verschiedenen Phasen der Bewegungen sehr präsent. Auch heute noch bieten die religiösen Gemeinschaften auf der Welt eine Vielzahl an Gründen aus anarchistischer Perspektive an ihrer Überwindung zu arbeiten. Nicht zuletzt, da bei vielen gesellschaftlichen Entwicklungen Religionsverbände und Anarchist:innen auf gegenüberliegenden Seiten des Kampfes stehen. Dabei nehmen neben den seit dem Mittelalter mächtigen christlichen Religionsgemeinschaften zunehmend auch durch Einwander:innen seit den 1960er Jahren stärker vertretene Religionsgemeinschaften die konservativen Rollen in der Politiklandschaft wahr. Gefördert werden beinahe alle diese Einrichtungen durch den Staat ob aufgrund Jahrhunderte langer Verflechtungen oder als angebliche Stimmen der nicht-deutschen Minderheiten. Die auch oft durch ausländische religiöse Staaten geförderten Religionsvertretungen erfahren dabei dauerhaft weniger Aufmerksamkeit als die christlichen Fundamentalisten, deren “Märsche Für das Leben” ein fester Bestandteil linker Protestkultur sind.

Die Gründe für die Unfähigkeit, die radikale Religionskritik auszuweiten, sind dabei vielfältig. Zum einen sind Sprache und kulturelle Gepflogenheiten für eine kaum migrantische Linke schwerer zu deuten. Zum Anderen sind Firmengeflechte, Immobilien und Gruppierungen im Gegensatz zu faschistischen Bewegungen recht unbekannt. Doch lohnen könnte sich eine dauerhafte Betätigung allemal. Denn die jahrelange Förderung der konservativen Elemente der Einwanderergesellschaften bei gleichzeitiger Abwendung linksradikaler Menschen hat zu einer weitreichenden Entfremdung geführt. Und so finden sich die Zentren radikaler religiöser Gemeinschaften oft an denselben Orten, an denen sich auch linke Zentren befinden, ohne einen dauerhaften Konflikt herbeizuführen. Diesen offensichtlichen Widerspruch anzugehen wird eine langanhaltende Kraftanstrengung bedeuten. Doch Hoffnung gibt es allemal. Denn die erzkonservativen Religionen haben eine Vielzahl von Menschen geprellt und verachtet. Wir sollten offensiv auf diese Menschen zugehen und die vielen Menschen bestärken, die sich ihr Leben nicht von rückwärtsgewandten Fanatikern vorschreiben lassen wollen.

Für die Freiheit von den Religionen – Nieder mit dem islamischen Fanatismus!

die plattform Berlin

2 Gedanken zu “Verlorenen Boden zurückgewinnen

  1. Dieser Text zeigt einmal mehr, wie wichtig das theoretische Durchdringen des Gegenstandes ist, der radikal kritisiert werden soll.

    „Schon die unkritische Ableitung modernen Lebens aus Jahrhunderte alten Büchern und Schriften ist zutiefst fragwürdig. Die konservative Schlagseite der Schriften stellt hierbei eine Bedrohung für den menschlichen Fortschritt mehrerer Jahrhunderte dar.“
    Damit übernimmt der Text leider genau die Lesart, dieser „Jahrhunderte alten Bücher und Schriften“, von denen, die er eigentlich kritisieren will. Das es Theologie gibt, die genau darin besteht, die Versuche abzuwehren, diese Texte „religiös“ zu interpretieren, ist entweder nicht bekannt oder wird bewusst ignoriert.

    Wenn die fehlende Analyse nur in einer verkürzte Religionskritik enden würde, wäre es ja nicht so tragisch. Leider wird auf Kapitalismus- und Ideologiekritik dann auch gleich ganz verzichtet. Das Patriarchat wird zu einer Folge von Religion, Kapitalismus wird gar nicht mehr erwähnt. So kann der europäische und der islamistische autoritäre Extremismus nicht als die Krisenideologie verstanden werden, die er ist.

    Vielleicht liegt einer der „Gründe für die Unfähigkeit, die radikale Religionskritik auszuweiten“ dann doch auch in der mangelnden Bereitschaft zu theoretischer Auseinandersetzung?

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