ein Blick aus dem Werkstattfenster –
Von Gooo in Zusammenarbeit mit Alfred Masur –
Viele Leute haben es gar nicht bemerkt, aber in den letzten Jahren ist der Kram, den wir kaufen, erstaunlich billig geworden. Meine Kindheit war in den 1970ern, erst kurz bevor ich auszog, konnten meine Eltern es sich leisten, das Wohnzimmer auszubauen und Möbel dafür anzuschaffen. Die 50er Jahre-Küche flog erst Jahre später auf den Müll. Wir haben uns nicht gewundert, wir haben uns auch nicht als arm wahrgenommen.
Für einen Schwarz-Weiß-Fernseher musste 1960 noch 351 Stunden und 38 Minuten gearbeitet werden. Anfang der 1990er Jahre war ein Röhrengerät erst nach fast 78 Stunden verdient. Heute muss man für einen Flachbildfernseher rund 28 Stunden arbeiten.
Für 250 Gramm Butter musste 1960 noch 39 Minuten gearbeitet werden, im Jahr 2010 waren es noch 5 Minuten, aktuell sind es nur vier Minuten.
Für einen Liter Vollmilch musste 1960 immerhin noch 11 Minuten gearbeitet werden, im Jahr 2012 waren es nur drei Minuten.
Für ein Paar Damen-Pumps musste 1960 noch 14 Stunden und 29 Minuten gearbeitet werden, im Jahr 2012 waren es nur noch 5 Stunden und 2 Minuten.
Ein hochwertiges Herrenhemd ist heute bereits in gut zwei Stunden verdient, 1960 waren dagegen noch fast acht Stunden nötig. (1)
Ich hätte dazu gerne bessere Zahlen. Interessant wäre z.B. der Gegenwert einer Handwerks- oder Dienstleistung – Haare schneiden dauert heute noch genau so lange wie 1960. Hätten wir noch deutlich ältere Zahlen, würden wir gewiss eine rasante Beschleunigung sehen. Wie weit kann das führen?
Auf den ersten Blick sieht das nach einer positiven Entwicklung aus: „Ist doch prima, wenn alles billiger wird“, wird sich so manche/r Lohnabhängige mit kleinem Geldbeutel denken. In diesem Sinne hoffte auch Henry Ford, Automobilunternehmer und Pionier der Fließbandproduktion, die Arbeiter*innen durch den Massenkonsum mit der kapitalistischen Ausbeutung zu versöhnen. „Die Arbeit am Band ist kein Zuckerschlecken, aber sie werden sich damit arrangieren, wenn sie sich am Ende selbst ein Auto der Marke Ford leisten können“, mag er sich gedacht haben. Natürlich war er dabei weniger von Menschenliebe als vielmehr von dem Wunsch getrieben, eine sozialistische Revolution der Arbeiter*innen zu verhindern.
Zunächst schien die Rechnung aufzugehen; in den reichen Ländern der westlichen Welt sah es nach dem 2. Weltkrieg so aus, als sei der Klassengegensatz im Zeichen des Massenwohlstands überwunden. Doch in den 1960er und 1970er Jahren zeigten sich Risse: Revolten von Studierenden und jungen Arbeiter*innen machten deutlich, dass es für freiheitsliebende Menschen auch dann eine Zumutung ist, einen großen Teil der Lebenszeit der Lohnarbeit zu opfern, wenn sie sich dafür – quasi als Schmerzensgeld – Fernseher, Wohnzimmereinrichtungen und Urlaubsreisen leisten können.
Des Weiteren ist die Verbilligung der Produkte für die hiesigen Arbeiter*innen erkauft durch die umso krassere Ausbeutung der Arbeitssklav*innen der „2. und 3. Welt“. Eine Näherin in Bangladesch verdient ca. 2% an einem Hemd, das sie näht. Preis eines T-Shirts aktuell bei KIK: 2,99 €. Nicht vergessen werden sollte dabei, dass die günstigen Preise in unseren Supermärkten auch durch den Einsatz von Arbeitsmigrant*innen bedingt sind, die hierzulande in einigen Branchen unter 3.Welt-Bedingungen schuften müssen: Dass in Deutschland kaum jemand den billigen Spargel ernten kann und will und dafür deshalb Arbeiter*innen aus Osteuropa eingesetzt werden, hat sich herumgesprochen, die Arbeits- und Produktionsbedingungen der Fleischindustrie kamen letztes Jahr dank dem Tönnies-Skandal auch kurz in den Fokus.
Die Lebensmittelproduktion insgesamt ist einem irrsinnigen Preisverfall unterworfen. Das Preisdumping der großen Lebensmittelketten zwingt die Landwirt*innen zu immer industrielleren Methoden sowie dazu, mehr Chemie und Gift einzusetzen und keine Rücksicht auf das Tierwohl zu nehmen. Inzwischen sind die Preise so weit unten angekommen, dass es auch so nicht mehr zu funktionieren scheint, siehe Bauernproteste. Das (grüne) Bürgertum erhofft sich Rettung in einer Erhöhung der Preise und dadurch bessere Bedingungen in der Produktion. Der Prolet schaut angstvoll auf seinen Grill….
Eine weitere Schattenseite der Verbilligung der Produkte wird nicht nur angesichts der industriellen Landwirtschaft immer offensichtlicher: Die rapide Zerstörung der Natur. Jeden Tag verschwinden 150 Tier- und Pflanzenarten für immer von der Erde. (2) Durch das massenhafte Verbrennen von Kohle und Erdöl haben wir mit dem Klima unseres Planeten ein gewagtes Experiment in Gang gesetzt, dessen wahrscheinlich dramatische Konsequenzen wir gerade erst zu erahnen beginnen.
Um es zusammenzufassen: Unter kapitalistischen Bedingungen dient die Verbilligung der Produkte nicht dem Wohle der Menschen, sondern der Erhöhung der Profite. Sie ist ein zweifelhafter Segen, der erkauft ist durch die Entfremdung der Lohnarbeit, die Überausbeutung der 3. Welt und die Zerstörung der Natur.
Auch der Gebrauchswert der Waren leidet in verschiedener Hinsicht unter dem Zwang zur Profitmaximierung. Zum einen werden überschüssige Gebrauchswerte häufig einfach vernichtet. Von 100.000 Laptops eines bestimmten Typs werden 70.000 verkauft. Der Rest? Wird nicht günstig verkauft, sondern verschrottet. – Weshalb? Weil der Markt für das Nachfolgemodell hergestellt werden muss, dafür wird Platz geschaffen. Die Vernichtung von Retouren bei Amazon sorgte vor zwei Jahren für Schlagzeilen, ist aber im Grunde weniger der besonderen Bösartigkeit dieses Konzerns geschuldet, als vielmehr allgemein übliche Praxis. (3)
Natürlich ist es in auch nicht im Sinne der Umsatzsteigerung, wenn die Waren zu lange halten würden. Nach Ablauf der Garantie gehen die meisten der Geräte dann auch pünktlich kaputt, ganz im Gegensatz zu den „teuren“ Geräten von 1960. Zwar war auch das schon Massenware und Fließbandarbeit, es mussten dennoch regionale Löhne bezahlt werden, auch bei den Zulieferern. Die Beschaffung der Rohstoffe ist allerdings sicher mindestens genauso grausam von statten gegangen wie heute.
Heutige Flachbildschirme werden durchschnittlich nur halb so lang genutzt wie die alten Röhrenfernseher. Es gibt sogar einen wissenschaftlichen Fachbegriff für das vorzeitige Altern der Produkte: Geplante Obsoleszenz. Es besteht jedoch unter den Expert*innen noch keine Einigkeit darüber, ob das Phänomen stärker durch das absichtliche Einbauen von „Sollbruchstellen“ und die schlechte Reparierbarkeit der Produkte oder doch vor allem durch den ständige Wunsch der Kund*innen nach einem Nachfolgemodell hervorgerufen wird. (4)
Fest steht, dass die Umerziehung der Konsument*innen recht gut funktioniert hat; wir wollen stets Neues und das Zeug muss nicht mehr halten: 18 Prozent der Kleidungsstücke werden nur zweimal überhaupt, 20 Prozent seltener als einmal im Vierteljahr getragen. (5) Die Entwertung der Dinge zeigt sich auch in der mangelnden Wertschätzung, die wir ihnen entgegenbringen. Wert kann jedoch schnell relativ sein. Die Schraube auf dem Werkstattboden, nach der ich mich nicht bücken mag, wird unendlich wertvoll, wenn sie bei der Montage auf der Baustelle fehlt und der nächste Baumarkt 30 Kilometer entfernt ist. Pandemiebedingte Lieferengpässe zeigen uns das aktuell auch gerade auf.
Auf der subjektiven Seite geht die Entwertung der Dinge mit einer zunehmende Entfremdung der Menschen von der Dingen einher: Wir verlernen es, die von uns benutzten Geräte zu reparieren, bzw. überhaupt ihre Funktionsweise zu verstehen. War es in den 1990er Jahren noch üblich, das Gehäuse seines heimischen PCs aufzuschrauben, darin herumzubasteln und Komponenten auszutauschen, so ist das Innenleben der heutigen Laptops den meisten Nutz*innen ein Buch mit sieben Siegeln. Dies verstärkt unsere Ohnmacht und Abhängigkeit von den von uns benutzen Apparaten, welche letztlich nichts anderes als unsere Ohnmacht und Abhängigkeit gegenüber den sozialen Verhältnissen ist. Unsere Ungeschicktheit im Umgang mit den Dingen wird darüber hinaus durch die hochgradige gesellschaftliche Arbeitsteilung sowie durch den Umstand verstärkt, dass mittlerweile große Teile der Gütererzeugung in andere Länder ausgelagert wurden und viele von uns in ihrem Arbeitsleben gar nicht mehr mit der materiellen Produktion in Berührung kommen.
Wie kommen wir da raus? Das kapitalistische System ist nicht grundlegend reformierbar. Also Revolution, „Aneignung der Produktionsmittel durch die Produzent*innen“ wie es in den klassischen Schriften der alten Arbeiter*innenbewegung heißt? Wie können wir uns das unter den gegebenen Umständen vorstellen? – Weniger denn je kann es heute darum gehen, dass der bestehende Produktions- und Verteilungsapparat einfach unter der Kontrolle von Arbeiter*innenräten weitergeführt wird. Wer will sich schon all unsere Hähnchenmastanlagen, Großschlachtereien, Autofabriken, Atomkraftwerke und Shoppingmalls in Selbstverwaltung vorstellen? Nein, große Teile der heutigen Produktion müssten entweder ersatzlos stillgelegt oder grundlegend umgestaltet werden, um den Zwecken einer freien Menschheit zu genügen und die Natur nicht weiter zu zerstören.
Andererseits sind bestimmte Bereiche der Produktion absolut lebensnotwendig und müssen unbedingt am Laufen gehalten werden, wenn das revolutionäre Projekt erfolgreich sein soll. In seinem Buch „Die Eroberung des Brotes“ von 1892 schreibt Peter Kropotkin über die französischen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts:
„Große Ideen wurden in diesen Epochen geboren – Ideen, welche das ganzen Weltall erschüttert haben; Worte wurden gesprochen, welche noch heute nach dem Verlauf eines Jahrhunderts unser Herz schlagen machen.
Das Brot indessen mangelte in den Vorstädten.
Mit dem Augenblicke, wo die Revolution eintrat, ruhte unvermeidlich die Arbeit. Die Zirkulation der Waren stockte, die Kapitalisten verbargen sich. Der Arbeitgeber hatte in diesen Epochen nichts zu fürchten: er lebte von seinen Renten, wenn er nicht gar auf das Elend spekulierte; der Lohnarbeiter sah sich dagegen zu einer kümmerlichen Lebensfristung, die morgen gar noch in Frage gestellt werden konnte, verdammt. Die Hungersnot kündigte sich an. […]
Im Jahre 1871 ging die Kommune aus Mangel an Kämpfern zugrunde. Sie hatte nicht vergessen, die Trennung von Kirchen und Staat zu dekretieren, aber sie hatte zu spät daran gedacht, allen ihren Kämpfern den Lebensunterhalt zu sichern.“ (6)
Die Revolutionen der Vergangenheit scheiterten laut Kropotkin daran, dass sie sich auf die Eroberung des Staates und die Umgestaltung des politischen Systems konzentrierten, es aber nicht vermochten, den Zugang zu lebensnotwendigen Gütern der Herrschaft von Markt und Privateigentum zu entreißen und für alle sicherzustellen. Was nützen die „großen Ideen“, wenn es nicht genug zu essen gibt?
1871 ging es um Brot, wie wäre es heute? Wasser wird schnell ein Thema sein, was ist z.B. mit Strom und Internet? Wie viel mehr sind wir heute abhängig von der kapitalistischen Infrastruktur und wie sehr viel weniger sind wir selbstständig in der Lage, uns mit dem, was wir als notwendig empfinden, zu versorgen?
„Es ist offenbar“, schreibt Kropotkin weiter, „dass die geringste Erschütterung des Privateigentums zur vollständigen Desorganisation des gesamten auf der Privatunternehmung und dem Lohnsystem begründeten Regimes führen muss.“ Die Angst vor dieser Desorganisation scheint einer der tieferen Gründe dafür zu sein, warum in den meisten modernen Revolutionen die Massen trotz all ihrem Zorn und Kampfesmut vor dem entscheidenden Schritt zurückschreckten und die Produktion nicht in ihre Hände nahmen. 2011 wurde der ägyptische Despot Mubarak durch Streiks, Massendemonstrationen und Straßenkämpfe zum Rücktritt gezwungen. Aber die Aufständischen versäumten es, den Suezkanal und die Textilfabriken von Mahalla (7) dem Zugriff von Staat und Kapital zu entziehen und sie der gemeinsamen Verwaltung durch die arbeitende Bevölkerung zu unterstellen. Heute herrscht in Ägypten General Sisi, den Lohnabhängigen geht es so schlecht wie eh und je.
Aber die Furcht vor der revolutionären Aneignung ist nicht unbegründet. „Die Aneignung dieser Kräfte ist selbst weiter nichts als die Entwicklung der den materiellen Produktionsinstrumenten entsprechenden individuellen Fähigkeiten,“ (8) schreiben Marx und Engels. Wenn die Lohnabhängigen sich den ganzen modernen Maschinenpark aneignen und ihn noch dazu vernünftiger und menschlicher gebrauchen wollen als die Kapitalist*innen – dann müssen sie sich auch die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten aneignen, um mit diesem gigantischen Maschinenpark umzugehen. Aber mit diesem Wissen ist es nicht zum besten bestellt. Wie wollen wir die Welt aus den Angeln heben, wenn es uns noch nicht einmal gelingt, unser Fahrrad oder unseren Laptop zu reparieren?
Die soziale Revolution verlangt eine Vielzahl von Fähigkeiten, die wir großteils erst (wieder) erlernen müssen: Das beginnt dabei, während des sozialen Umbruchs die Versorgung mit lebensnotwendigen Dingen ohne die Leitung durch die kapitalistische Betriebsorganisation sicherzustellen, wobei sicher einige Improvisation vonnöten sein wird. Des Weiteren müssen wir lernen, Dinge Instand zu halten, zu reparieren und neuen Verwendungen zuzuführen. Insbesondere in der Landwirtschaft und der Nahrungsmittelproduktion, aber auch in vielen anderen Bereichen, gilt es, Alternativen zu heute gängigen Herstellungsweisen zu finden, die weniger ressourcenverschwendend, naturzerstörend und für Beschäftigte und Konsument*innen weniger gesundheitsschädlich sind. Dabei muss wahrscheinlich vielfach auf ältere, handwerkliche Verfahren zurückgegriffen werden, deren Kenntnisse im rapiden Verschwinden begriffen sind. Es geht dabei nicht darum, dass „früher alles besser war“, sondern, dass wir aus dem gesamten Erfahrungsschatz der Menschheit – von der Pflanzenkunde indigener Völker bis zur modernen Computertechnologie – werden schöpfen müssen, um die Desaster zu heilen, die der Kapitalismus uns hinterlassen hat.
Aber was heißt das alles für uns in der jetzigen Situation, wo eine soziale Revolution weit entfernt erscheint? – Es wäre durchaus zu begrüßen, wenn schon im Hier und Jetzt mehr Menschen beginnen, mit anderen Herangehensweisen an die Dinge zu experimentieren. Zum einen, weil ein weniger entfremdeter Gebrauch der uns umgebenden Gegenstände uns im Alltag ein wenig Autonomie zurückgeben kann, unsere Fähigkeiten entwickelt und nicht zuletzt – Spaß macht. Zum anderen als Vorbereitung auf die von uns erstrebte große Umwälzung der Produktion.
Material zum Üben und Aneignen gibt es mehr als genug in den Honigtöpfen der modernen Wirtschaft: ihren Müllcontainern. Und wir meinen nicht nur die Container der Lebensmittelgeschäfte, sondern ebenso die Abfallbehälter von Veranstaltungs- und Messebau und ähnlichen Firmen. Oder schaut mal in die Container der „Recycling“-Höfe, dort liegen z.B. so viele Fahrräder, dass es einen wirklich wütend machen kann. Häufig sind diese Räder im Wesentlichen intakt, haben vielleicht nur einen platten Reifen oder eine falsch eingestellte Schaltung. Trotzdem dürfen sie die Angestellten nicht rausgeben. Und dies, obwohl das in diesem Fall zuständige Abfallwirtschaftsgesetz die Vermeidung von „schädliche[n] … Einwirkungen auf Mensch, Tier und Pflanze“ zum wichtigsten Grundsatz erhebt und daher folgende Reihenfolge zum Umgang mit nicht mehr brauchbaren Dingen festlegt:
„1.Abfallvermeidung;
2.Vorbereitung zur Wiederverwendung;
3.Recycling;
4.sonstige Verwertung, z.B. energetische Verwertung;
5.Beseitigung.“ (9)
Recycling würde im Falle eines Fahrrades einschmelzen bedeuten, was unter ungeheurem Energieaufwand vielleicht ein Kilo Stahl ergibt; energetische Verwertung wäre unmöglich; Beseitigung – was soll das sein? Es wäre also sowohl sachlich richtig, als auch witzigerweise sogar gesetzlich geboten, die Räder einfach rauszugeben und mit ein paar Handgriffen wieder flott zu machen. Aber die Verantwortlichen dieser Recyclinghöfe ahnen wahrscheinlich – oder es wurde ihnen von irgendwelchen höheren Stellen bedeutet – dass es dem Gedeihen der Wirtschaft nicht zuträglich wäre, wenn sie es hier mit dem Buchstaben des Gesetzes allzu genau nähmen.
Wer nicht mehr in diesem System arbeiten möchte, oder schlicht keine Arbeit mehr findet, hat für solche Experimente ein phantastisches Kapital: Zeit. Zeit ist nämlich nicht Geld. Zeit ist Zeit. Habe ich genug, wo ist dann das Problem, wenn es lange dauert? Wer Lohnarbeit und eventuell noch Kinder hat, wird natürlich eher weniger freie Zeit zu Verfügung haben. Aber auch in diesem Fall kann es sich lohnen, zumindest manchmal der Versuchung der vermeintlich „praktischen“ Lösung des Neukaufs zu widerstehen und sich selbst ein wenig mit Reparaturversuchen und Improvisation die Finger schmutzig zu machen. Es hilft in diesem Zusammenhang sicherlich, wenn es wenigstens ansatzweise gelingt, die Isolation der Kleinfamilie zu durchbrechen und gemeinschaftlichere Formen des Alltags und der Kindererziehung zu erproben.
Gedankliche Anregungen für eine neu zu erweckende do-it-yourself-Bewegung gibt es zuhauf. Zu nennen wäre etwa das „Reparaturmanifest“ mit dem schönen Motto: „Wenn du es nicht reparieren kannst, gehört es nicht dir!“ (10) Reparatur muss sich nicht nur wieder lohnen, sondern könnte eine Erhöhung des ursprünglichen Wertes darstellen, z.B. in einer Ressourcen schonenden Verbesserung der aufgetretenen Schwachstellen. Die japanischen Begriffe „Kintsugi“ (11) und Wabi-Sabi (12) geben uns eine interessante Vorstellung für eine auch kulturelle Aufwertung durch Reparatur. Alfred Sohn-Rethels Aufsatz über das „Ideal des Kaputten“ aus den 1920er Jahren kann in diesem Zusammenhang noch heute inspirierend sein: Er schildert seine Beobachtungen über den eigenwilligen Umgang der ärmeren Bewohner*innen Neapels, die gerade durch das kreative Erfinden von immer neuen Reparaturlösungen für ihre im Grunde schrottreifen technischen Geräte eine Souveränität im Umgang mit der Welt der Dinge behaupteten. Neue, perfekt funktionierende, aber gerade dadurch in ihrer Funktionsweise unverständliche Maschinen seien ihnen dagegen eher suspekt gewesen. (13)
Zu beachten ist dabei, dass all diese Ideen und praktischen Versuche für sich allein genommen wenig systemsprengendes Potential haben. Getrennt von einer allgemeinen gesellschaftskritischen Perspektive können sie schnell in Sackgassen bzw. reibungslos den Verhältnissen angepasste Nischen enden. So ist etwa in den letzten Jahren ein Upcycling-Trend entstanden, der einfach eine Marktlücke geschäftstüchtiger Kunsthandwerker*innen darstellt, die aus Schrott Luxusgüter für ein besserverdienendes Publikum herstellen – eher eine Modeerscheinung. Umgekehrt könnte in Zeiten des Sozialabbaus die Regierung auf den Gedanken kommen, dass es kostengünstiger wäre, den Armen anstatt Hartz4 einfach freien Zugang zu den örtlichen Recyclinghöfen zu gewähren…
Alles kommt daher darauf an, ob es gelingt, die hier vorgeschlagenen Versuche in ein revolutionäres Projekt einzubeziehen, das die herrschenden Verhältnisse in all ihren Facetten angreift – von der Lohnarbeit bis zum Geschlechterverhältnis, vom Schulsystem bis zum Städtebau. Im Kontext einer allgemeinen widerständigen Bewegung könnte ein kreativer Geist der Aneignung der Dinge durch Reparatur und Improvisation durchaus subversive Kraft entwickeln.
Also, in diesem Sinne: Ran an die Materie! Wir brauchen nicht unbedingt (nur) Spezialist*innen – aber Grundlagen der Werkzeugbenutzung, des Landbaues, der Mechanik, Elektronik usw. sind essentiell. Know-How ist allerdings ein entscheidender Punkt. Wissen vermitteln und teilen – nicht nur anarchistische Theorie – sondern alles was uns im Kampf und Leben voran bringt, Rohstoffquellen erschließen, Räume öffnen, Aufgabenteilung organisieren. Was wir vor allem brauchen, ist der Wille, die eigenen Dinge im wahrsten Sinnes des Wortes wieder selbst in die Hand zu nehmen.
Fußnoten:
(1) Institut der Deutschen Wirtschaft 2019.
(2) www.faz.net/aktuell/gesellschaft/tiere/….
(3) https://t3n.de/news/amazon-vernichtet-retouren-neuwaren-1086628/
(4) www.tagesspiegel.de/wirtschaft/geplante…
(5) www.greenpeace.de/sites/www.greenpeace….
(6) Peter Kropotkin: Die Eroberung des Brotes, Kapitel: Die Lebensmittel, im Internet z.B. unter: de.wikisource.org/wiki/Die_Eroberung_de…
(7) de.labournet.tv/video/6360/die-mahalla-…
(8) Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 67f.
(9) Abfallwirtschaftsgesetz 2002, Fassung vom 05.07.2020
(11) de.wikipedia.org/wiki/Kintsugi