Selbstorganisierte Gruppen bauen solidarische Strukturen im Kampf gegen das Coronavirus auf
Binnen kurzem hat das Coronavirus das Leben, wie wir es kennen, völlig verändert. Im Stundentakt erreichen uns neue Meldungen über Dinge, die wir gestern noch für unmöglich gehalten hätten. Die Unsicherheit ist groß in diesen Zeiten: Keine*r weiß, ob die ergriffenen Maßnahmen die Ausbreitung der Krankheit eindämmen werden, keine*r weiß, was uns als nächstes erwartet; wieviele Menschen schwer leiden oder gar sterben werden. Die folgenden Zeilen sind daher nur ein erster Versuch, einige Aspekte des gegenwärtigen Zustandes zu benennen und Perspektiven zu skizzieren, worauf es in den kommenden Wochen und Monaten ankommen könnte.
Soviel scheint klar: Zwar ist das Virus an sich eine Naturtatsache,
die Frage, wie mit diesem umgegangen wird, ist dagegen ein zutiefst
gesellschaftliches Problem, das von den kapitalistischen Verhältnissen
und ihren Widersprüchen abhängt. Wer wie unter der Krise leidet, wer am
Ende die Zeche der Krisenmaßnahmen zu zahlen hat und wie sie eventuell
die Gesellschaft dauerhaft verändern werden – all das hängt von
Kräfteverhältnissen und Klassenauseinandersetzungen der unmittelbaren
Zukunft ab.
Die Bundesrepublik ist wie viele andere Staaten geprägt durch eine
neoliberale Agenda des Kaputtsparens öffentlicher und sozialer
Dienstleistungen, wovon insbesondere das Gesundheitswesen betroffen ist.
Dieses war schon lange weder personell noch qualitativ ausreichend
ausgestattet und mutete den Beschäftigten einen Zustand permanenter
Überarbeitung zu. (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-kern-der-deutschen-krankenhausmisere)
Nun droht es unter dem Andrang schwerkranker Menschen völlig
zusammenzubrechen – so, wie es sich in Italien und Spanien bereits jetzt
abzeichnet.
Angesichts dessen versuchen die Regierenden, der Ausbreitung der Pandemie durch immer drastischere Einschränkungen der Bewegungsfreiheit Herr zu werden – mit bislang geringem Erfolg. Zugleich beeilen sie sich, den durch den allgemeinen shut down gebeutelten Unternehmen umfassende Hilfe zuzusagen.
In der Zwischenzeit mobilisieren sich außerhalb des Blicks der neoliberalen TV-Expert*innen, die sich jetzt in Studios mit leeren Publikumsrängen aufhalten, selbstorganisierte Gruppen, um ihren Nachbar*innen und denjenigen, die am stärksten von dem sich explosionsartig ausbreitenden Virus betroffen sind, gegenseitige Hilfe zu leisten.
Von der Pandemie zum Klassenkampf
Für Millionen von armen und arbeitenden Menschen wird sich das Leben in den meisten Ländern verändern – und zwar sehr schnell. Schon jetzt beginnen viele Unternehmen damit, Arbeiter*innen zu entlassen, da die Wirtschaft sich verlangsamt, ins Stocken gerät und immer mehr Bereiche stillgelegt werden. Millionen Beschäftigte müssen eine Zwangspause einlegen. Denjenigen Berufstätigen, die weiterhin arbeiten müssen (und hier vor allem Frauen) werden dazu neben der Lohnarbeit auch noch die Bürde der ganztägigen Kinderbetreuung aufgehalst, da Schulen und Kitas geschlossen sind. Einkommensquellen von Lohnabhängigen ganzer Brachen brechen weg durch das Veranstaltungsverbot und die Schließung von zahlreichen Geschäften und gastronomischen Betrieben. Die Menschen sehen besorgt in die Zukunft und wissen nicht, wie es weiter gehen soll und wo das Geld herkommen soll, um die Kosten für Nahrung, Miete und Energie zu decken.
Die Ausbreitung des Coronavirus wurde durch die globalen Zustände des modernen Kapitalismus beschleunigt. Die Folgen der herrschenden Wirtschaftsweise, wie z.B. rasche Gentrifizierung der Städte, die Automatisierung der Produktion, steigende Lebenshaltungskosten und der fehlende Zugang zu qualitativer Gesundheitsversorgung, kurz: die Prekarisierung der lohnabhängigen Klasse, bedeutet für diese eine besonders hohe Bedrohung durch die Pandemie. Ganz zu schweigen davon, was das Virus in den überfüllten Lagern anrichten kann, in denen Zehntausende festgehalten werden, die vor der Armut und den Kriegen der kapitalistischen Weltunordnung flüchteten.
Die Staatslenker*innen überbieten sich derweil gegenseitig in der schrittweisen Ausweitung des Ausnahmezustands und der Einschränkung von Freiheits- und Grundrechten. Sicher scheint es in der gegenwärtigen Situation ratsam, die Ansteckungsgefahr durch Reduzierung der direkten Kontakte zwischen Menschen zu minimieren. Es liegt aber auf der Hand, dass Regierungen versuchen werden, die Gunst der Stunde zu nutzen, um dauerhafte Maßnahmen zur stärkeren Kontrolle und Überwachung der Bevölkerung durchzusetzen. Soeben hat der deutsche Gesundheitsminister Spahn einen Gesetzentwurf angekündigt, der den Behörden zur Eindämmung des Coronavirus weitreichende Zugriffe auf die Bewegungsdaten von Mobiltelefonen ermöglichen soll. (https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/handytracking-spahn-will-zugriff-auf-mobilfunkdaten-von-corona-kontaktpersonen/25669028.html?ticket=ST-1633170-jfGEe5eyCbXon0yvqzEA-ap2) Die Erfahrungen mit staatlichen Ausnahmezuständen in den letzten Jahren (z.B. in Frankreich, Türkei und anderen Staaten) haben gezeigt, dass viele rechtlichen Bestandteile des Ausnahmezustands nach dessen Beendigung in die dauerhafte Gesetzgebung eingeflossen sind. Diese „Normalisierung des Ausnahmezustands” ist immer ein Angriff auf die Rechte und Freiheiten der lohnabhängigen Klasse. Wir müssen uns auf diese Bedrohung einstellen und kollektiv nach Wegen suchen, wie wir darauf antworten können.
Die medizinische und die mit ihr einhergehende soziale und wirtschaftliche Krise verschärft notwendig die Spannungen innerhalb der Klassengesellschaft. Und während weltweit viele Menschen noch in Schockstarre das surreale Geschehen betrachten, beginnen einige bereits, sich kollektiv gegen Zumutungen zu wehren und solidarisch für ihre Interessen einzusetzen.
Die italienischen Gefängnisse wurden am vorvergangenen Wochenende von den massivsten und energischsten Aufständen seit Jahrzehnten erschüttert (lowerclassmag.com/2020/03/17/nach-der-f…. Die Gefangenen protestierten gegen die zahlreichen Einschränkungen des Besuchrechts, des Freigangs etc., die ihnen im Zuge der Krise auferlegt wurden, sowie vor allem gegen den mangelnden Schutz vor Ansteckung in den überbelegten Haftanstalten. Vor den Gefängnismauern wurden die Revoltierenden von Angehörigen und anarchistischen Aktivist*innen unterstützt. Zugleich breitet sich in den Betrieben überall im Land eine Streikwelle aus: „Während in Italien alles unter Corona-Quarantäne steht, müssen die Arbeiter*innen weiterarbeiten, damit der Profit der Unternehmen nicht kleiner wird. Die Beschäftigten von Fiat weigern sich weiterzuarbeiten, nur damit die Profite bleiben und haben zum Streik aufgerufen“, heißt es beispielhaft in einer Erklärung der Fiat-Belegschaft. (www.labournet.de/internationales/italie…. Auch im Iran kommt es zur Zeit zu Streiks mit ganz ähnlichen Forderungen. (lowerclassmag.com/2020/03/20/iran-zur-v…. In San Francisco erklären die Bewohner*innen eines Hausprojekts, ab jetzt keine Miete mehr zu bezahlen, da viele von ihnen aufgrund der Seuchenbekämpfungsmaßnahmen nicht zur Arbeit gehen können. Sie fordern ihre Nachbar*innen dazu auf, ebenfalls in den Mietsstreik zu treten. (de.crimethinc.com/2020/03/19/zum-mietst…
Momentan sind diese Beispiele noch vereinzelt und es wäre verfehlt, angesichts der Situation in romatische Revolutionshoffnungen zu verfallen – aber es deuten sich hier Möglichkeiten an, wie wir der gegenwärtig ins Extrem gesteigerten Vereinzelung und Ohnmacht entkommen können.
Die Legitimation und den Nutzen des Staates und des Kapitalismus in Frage stellen!
Wenn wir, die arbeitenden und ausgebeuteten Menschen, in dem Coronavirus nicht nur eine Pandemie sehen, die bereits eine massive Zahl von Todesopfern hinterlässt, sondern durch sie auch den modernen industriellen Kapitalismus als die Dauerkrise erkennen, die er ist – dann entsteht der Wille, das wir uns für unsere eigenen Interessen mobilisieren, zurückschlagen und tatsächlich kämpfen.
Das bedeutet, dass wir nicht nur Brot und Butter verlangen: freie
Unterkunft, Zugang zu Nahrung, ein Ende der Fluchtursachen und sauberes
Wasser, sondern auch den Aufbau neuer menschlicher Beziehungen, neuer
Formen des tatsächlichen Lebens. Das bedeutet, Wege zu schaffen, um
unsere Bedürfnisse kollektiv zu befriedigen, Entscheidungen zu treffen,
uns zu organisieren und Probleme jenseits der staatlichen Struktur und
des kapitalistischen Systems zu lösen.
Dabei werden wir durch die auch hierzulande an vielen Orten beginnenden
Ansätze selbstorganisierter Hilfsprojekten ermutigt. Lasst uns unsere
Bemühungen vervielfachen, um Basisinitiativen zu schaffen und wachsen zu
lassen, zu vernetzen und ihre Verbindungen innerhalb der
Arbeiter*innenklasse und in den Vierteln der armen Menschen zu stärken!
Die Plattform – anarchakommunistische Organisation, 22. März 2020